Angst und Schrecken irgendwo in Oberschlesien

Ich wollte diese Folge ursprünglich nicht mit “Angst und Schrecken”, sondern mit “Furcht und Grauen” beginnen, aber ich hab das dann doch sein gelassen. Ratibor liegt irgendwo in Oberschlesien und es gibt dort neben dem üblichen “Wir sind halt in Polen”-Gefühl auch nocht merkwürdige Deutsche Freundschaftskreise mit singenden Omas und Volkstänzen …

Wenn man mit dem Zug durch Tschechien fährt, glaubt man eigentlich, es könnte nicht schlimmer werden. Vor allem, wenn man dann auf einem Bahnhof ankommt, der sich im golden kommunistischen Kitschstil präsentiert.
Und dann fährt man mit einem furchtbar überfüllten und warmen Bus über die polnische Grenze und realisiert langsam aber sicher das gesamte Ausmaß des Grauens.

Alles, was man sich je über Polen vorgestellt hat, wird einem bestätigt. Ich versuche ja meistens, mir aus Vorurteilen und irgendwelchen verschrobenen Vorstellungen über Länder nichts zu machen. Aber für manche bin ich dann schon empfänglich, besonders über welche aus dem Osten. Ich mag ja Ostblockkitsch, kommunistische Propagandaposter und alten Beton, aber man muss halt auch immer daran denken, dass dieser „lustige“ Teil auch eine sehr dunkle Medaillenseite hat.

Wir hielten irgendwann in Ratibor, dass zwar mehere Zehntausend Einwohner hat, aber trotzdem irgendwie wie ein Dorf wirkt. Vor dem Hotel. Das von Aussen mehr aussah wie die allgegenwärtigen Mini-Plattenbauten. In dem Hotel befand sich ausser dem Hotel noch eine Post. Wahrscheinlich stand die einzige Kopiermaschine von Ratibor irgendwo im Keller und der Bürgermeister von Ratibor teilte sich ein Büro und Gehalt mit dem Hoteldirektor.

Die Rezeption sah aus wie die Kasse einer hippen Disko, wo man zuerst in einen Vorraum kommt und den Eintritt per Kreditkarte zahlt. Will sagen: Eine Neonschrift, die „Receptiona“ sagte und „90er Jahre“ schrie, hing über einer Schwarzlichtlampe, mit der unsere Pässe und Ausweise überprüft wurden. Die Daten wurden wahrscheinlich sofort an den KGB übermittelt. Auf jeden Fall sah man in einigen Zimmern Leute in den Häusern auf der entegengesetzten Straßenseite, wie sie sich Sachen notierten, nachdem sie in unsere Zimmer gespäht hatten.

Das ganze Hotel war in dem schlechten Geschmack der frühen 90er Jahre eingerichtet, den sich jeder leisten konnte und eigentlich niemand haben wollte. Das beinhaltete folgen Dinge: Plastikpflanzen, Plastikrahmen mit Goldrand, gigantische, milchige Glühbirnen, farblich zueinander passende Wände und Handtücher in diesem schrecklich bekannten pastell-hellgrün.
Desweiteren fand ich in meinem Zimmer ein psychedlisches Bild, auf dem ein Regenbogenbummerang, 9 strahlend weiße übergroße Spermatazoiden, eine blaue Schnur, die wohl ein Möbiusband repräsentieren sollte, ein Penrose-Dreieck (Tribar) und ein Osterei in den gleichen Regenbogenfarben. Die meisten dieser Dinge waren gespielt. Unnötig zu erwähnen, dass der Fußboden ebenfalls ein merkwürdiges Muster hatte. Das Zimmer war eine Qual für jeden, der Sinn für Ästhetik bzw. Augenlicht hatte. Für einen Drogenverrückten musste es die Hölle sein. Zum ersten Mal in meinem Leben war ich froh darüber, dass ich keine psychedelischen Drogen dabei hatte.
Angst und Schrecken hatten wahrscheinlich ihren Hauptsitz in diesem Hotel. Vielleicht waren es auch ganz einfach die Regierungsführer in Polen.

¬Das einzige, was ich je über Ratibor erfahren hatte, war der Fakt, dass es dort eine Mumie gab. In einem Museum. Für eine Kleinstadt irgendwo an der tschesischen Grenze ist das schon eine Leistung. Irgendein exzentrischer Baron hat seiner Verlobten die Mumie zum Hochzeitgeschenk gemacht. Diese wollte die vertrocknete und einbalsamierte Ägypterin jedoch nicht und so schenkt er dem Ratiborer Museum die Mumie.
Angst und Schrecken machten sich breit. Was waren das für merkwürdige Leute in Oberschlesien, die sich gegenseitig Mumien schenkten. Und vor allem: Wieso war die einzigste Sehenswürdigkeit von Ratibor eine Leiche?

Die Stadtführung gestaltete sich auch recht kurzweilig, das es neben Kirchen und einem Schloss halt nur die erwähnte Mumie zu sehen gab. Allerdings gibt es die Legende, dass zwei der ungefähr 35 Kirchen in Ratibor durch einen unterirdischen Geheimgang miteinander verbunden sind. Die Legende besagt ausserdem, dass ein Junge, dessen „Freunde“ ihn dort zurückgelassen haben, nach einer Wochen als vollständig von Ratten abgenagtes Sklett wiedergefunden wurde.

In Ratibor gibt es auch eine Säule, die, sollte sich an einem Tag niemand vor ihr bekreuzigen, den Weltuntergang auslösen sollte. Stört man ihre Umgebung, gibt es nur Überschwemmungen, wie Augenzeugen zu berichten wussten.

Die Mumie war dann eigentlich fast schon wieder unspektakulär. Trotzdem merkwürdig: Der schräge Baron hat wahrscheinlich ein Sonderangebot nach dem Muster „Kaufen sie eine Mumie und kriegen sie eine Hand dazu“ gekauft, denn es gab neben der Mumie, drei Sarkophagen und Innereiengefässen auch noch eine mumifizierte Hand.
Angst und Schrecken waren auch hier. Irgendwo in Polen hatte es einen schrägen Mumiensammler gegeben. Wieso gab es in Ratibor nicht mehr Werbung für die Mumie? Wieso wurden keine polnischen Horrorfilme hier gedreht, wo die Stadt sich doch bisher als idealer Ort für so etwas herausgestellt hatte?

Ein weiterer Höhepunkt war der Besuch des zahnmedizinischen Museums, das ein Gruselkabinett erster Güte war. Das einzige, was gegen den erlittenen Schock durch die Ansicht von tausenden Bohr- und Folterwerkzeugen half, war das absolute Gegenteil von einem Mochidento: Karamell-Eiscafé mit einem Brennwert, der die weltweiten Energie- und Ernährungsprobleme auf einen Schlag lösen könnte.

Am Nachmittag ging es dann wieder in den viel zu kleinen, warmen und stickigen Bus, der uns in die Dörfer aus der Gegend kutschierte und uns die Sehenswürdigkeiten jener Dörfer zeigte. Diese waren hauptsächlich Kirchen, die in den letzten Jahren mit Geldern aus ominösen Quellen renoviert worden waren und ausserdem einen bedeutsamen Anteil an Katholiken-Kitsch zeigten, wie man ihn sonst nur in südamerikanischen Ländern sieht.

Ein weiteres, furchteregendes Detail: Alle Engel wurden als Köpfe mit Flügeln dargestellt, was ihnen ein äusserst dämonisches Aussehen verlieh. Wie schreckliche genmanipulierte Fledermäuse schwirrten sie um den heiligen Nikolaus und sonstige Figuren des Katholizismus. In einer Kirche konnte man ausserdem antike Kindersärge bewundern, was ein eher mulmiges Gefühl hinterliess.

Mulmig war mir auch zumute, als wir das Haus des Deutschen Freundschaftskreises betraten. Schon von weitem hörte man ein Chor von alten Damen, die über kinderlose Paare, die Abwesenheit von Sorgen und wahrscheinlich drogeninduzierte Visionen von taghell erleuchteten Häusern sangen. In einem Büro sah ich eine Deutschlandkarte. Mit den Grenzen von 1933. Angst und Schrecken nagten an meinen Zehen und schickten sich an, meine Beine hochzukrabbeln wie die ersten Wellen eines Acidrausches.

Während die alten Damen, die übrigens zu einem Synthie sangen und teilweise sehr üble dicke und große Brillen in Perl/Rosa trugen, weiterhin ihre Stücke übten, sahen wir uns ein kleines Heimatkundemuseum an, in dem man alte Trachten und Pässe aus der Zeit nach 1933 ansehen konnte.

Nach diesem Ausflug in die merkwürdige und befremdliche Welt der deutschen Minderheit in Oberschlesien fuhren wir in ein Haus, in dem wir schleslische Küche und Tänze dargeboten bekammen. Wieder einmal Angst und Schrecken, die sich wie die Sonne durch eine dicke Glasscheibe tausendfach verstärkten.

Ein weiser Mann empfahl mir, doch ein Bier zu trinken, damit würde man das ganze besser ertragen können. Mir wäre lieber gewesen, ich hätte auf harten Alkohol oder gleich Heroin zurückgreifen können, aber man muss mit den Mädchen tanzen, die da sind. Wie wahr dieser Auspruch ist, sollte ich in den kommenden Stunden auch noch schmerzlich erfahren.

Die Tanzgruppe war in Trachten gekleidet und bot uns eine Polka nach der anderen da, wobei das Hauptziel des Tanzes wohl vor allem im Partnertausch und damit in der Möglichkeit, alle Dorfmitglieder des anderen Geschlechtes kennenzulernen bestand.
Die Musik kam wieder von einem Synthie. Wahrscheinlich gab es nur einen einzigen im Umkreis von 50 km und der Synthiespieler war einer der gefragtesten Männer in der ganzen Umgebung. Er fuhr wahrscheinlich eins der einzigsten Autos, dessen Motor in der Lage war, 4 Täkte auszuführen.

Nach dem Essen, das ich als Vegetarier (Öko-Heiligenschein lässt grüßen!) nicht kosten musste, war dann selbst tanzen angesagt. Die polnische Tanzlehrerin zwang mich, mit einem Mädchen aus der Tanzgruppe zu tanzen. Also, ich humpelte unbeholfen dabei und versuchte krampfhaft, mir die Anzahl der Schritte, Klatscher, Drehungen und die Choreographie der Polka zu merken und sie tanzte einfach ihr Ding, ohne recht darauf zu achten, was ich machte. Ich fühlte mich extrem unangenehm und setzte irgendwann aus, indem ich vorgab, ein Bein verloren zu haben.

Dann stand Karaoke auf dem Programm. Da ich mich jetzt schon einmal zum Affen gemacht hatte, war ich natürlich auch bereit, alle möglichen Verbrechen der Popmusik mitzugröhlen und in ein Mikrophon zu plärren.

Irgendwann musste der Besitzer der Karaokeanlage weg, denn er hatte noch zwei 18te und einen 80ten Geburstag an diesem Abend vor sich und er hatte sich leider noch kein Auto mit mehr als zwei Täkten verdient.

Ich wusste nicht, was jetzt passieren sollte, aber ich wusste, dass ich es nicht sehen wollte. Endweder würden einige Leute ohne Musik Popsongs singen oder jemand würde anfangen, obskure Volkslieder zu singen, oder – noch schlimmer, jemand würde vorschlagen, doch noch eine Polka zu tanzen. Und es gab kein Bier mehr.

Angst und Schrecken hatten mich. Genauso wie ihre pickeligen Cousins Furcht und Grauen. Wieso gab es so viele Trachten in Oberschlesien? Was sollte die schreckliche Einrichtung des Hotels? Was waren das für Leute, die eine Karte mit den Grenzen von 1933 aufhingen? Gab es hier irgendeine andere Freizeitbeschäftigung, die nicht mit dem Renovieren von Kirchen, dem Singen von alten Liedern oder dem Tanzen von Volkstänzen zu tun hatte? Würde die Mumie noch mehr Angst und Schrecken verbreiten?
Und vor allem: Was hatte dieses psychedlische Bild in meinem Zimmer zu bedeuten?

Das einzige, was jetzt noch half, war die Flucht in die einsame Dunkelheit einer oberschlesischen Bushaltestelle.