Angst und Schrecken in Münster

Ein Wochenende, also eher zwei Tage, mit Freunden in Münster zu verbringen klingt eigentlich ganz gemütlich. Wären da nicht gewisse Faktoren, das ganze ein wenig verrückter machten, als es eigentlich so schon war.


Das Ganze war mal wieder eine geheime gonzojournalistische Mission, was bedeutet, dass Ablehnen so gut wie unmöglich war. Desweiteren war ich auf eine Lesung eingeladen. Und wie jeder weiß, der mich nicht nur von diesem Podcast kennt, bin ich eine gewaltige Rampensau und stelle mich gerne auf Bühnen oder setze mich auf Barhocker und spreche in Mikrofone. Mir gefällt das einfach, wenn mir alle zuhören. Ich weiß, dass viele das nicht verstehen können. Wie kann man nur seine innersten Gedanken und Gefühle nach außen kehren und sie vor sich hintragen? Wieso tut man so etwas?

Ganz einfach: Aus dem gleichen Grund, aus dem der Hund sich am Arschloch leckt. Weil er es kann.

Die Reise begann, Ökoheiligenschein verpflichtet, wie so oft, mit der Bahn. Nun hatte die deutsche Bahn Ende letzten Jahres die Preise erhöht, was das Bahnreisen zu einem noch teueren, aber nicht unbedingt angenehmeren Vergnügen machte. Fünf Stunden sollte die Reise bis nach Münster dauern, und immerhin sicherte mir ein reservierter Sitzplatz eben genau das: einen Sitzplatz. Mit Schrecken dachte ich an die Fahrt nach Köln im Oktober, bei der ich keinen Platz reserviert hatte und mich nach jeder Haltestelle um einen neuen Platz kümmern musste.
Irgendwann hatte ich gemeinsam mit einer Weintourismusgesellschaft an einem Vierertisch gesessen. Die hatte ihre neuen Einkäufe auch sofort ausprobieren müssen. So entkorkten diese fröhlichen Menschen fortgeschrittenen Alters mehere Flaschen Wein und verspeisten Teilchen und Salzstangen zu dem freudenspendenen Saft.

Ich fand das ziemlich schrecklich, wurde aber zum Glück beim nächsten Halt von meinem Platz verscheucht.

Meine Rese nach Münster hingegen sollte so ruhig wie sonst eigentlich nie erfolgen. Nur zwischen Köln und Düsseldorf war es ein wenig stressig, weil viele Leute in Anzügen von Köln nach Düsseldorf wollten. Was mir irgendwie sehr suspekt vorkam. Wer in drei Teufels Namen will eigentlich nach Düsseldorf?

Sollte mir dann aber doch egal sein, ich wollte ja eh nach Münster. Eine Studentenstadt, von der ich eigentlich schon mehr wusste, als mir bewusst war, aber das sollte mir auch erst nach meiner Abfahrt wieder einfallen. Ich dachte nur: Norddeutschland, das wird sicher Schnee und Kälte bedeuten, vielleicht sogar eisen Meereswind. Als Landratte verschätzt man sich ja gerne mit dem direkten Einfluss des Meeres, der so weit gar nicht reicht.

Ich stieg also nach einer dann doch schon ziemlich langen Zugfahrt in Erwartung eines eiskalten Bahnhofs aus dem Zug. So kalt sollte es dann doch nicht sein. Es war eigentlich fast genauso warm wie in Luxemburg. Vielleicht sogar noch wärmer.

Das erste Mal in meinem Leben wartete tatsächlich ein Mensch auf dem Bahnsteig auf mich. Das ist eine schöne Erfahrung, finde ich.

Ein Dönerbesuch und ein Bierkauf später waren wir dann auch schon auf dem Weg in das berühmt-berüchtige Raktencafé. Mein Mitleser, der mich abgeholt hatte, erzählte mir allerlei wunderliche Sachen über das Etablissement, wovon ich eigentlich nur zwei Sachen behielt: Cocktails und 50er Jahre Einrichtung. Was beides sehr gut klang.
Cocktails. Allein der Klang dieses Wortes schon.

„Münster also“, dachte ich an jeder Straßenecke und versuchte erst gar nicht, mich irgendwie zurecht zu finden. Als Luxemburger ist man in der dummen Situation, dass man eigentlich überhaupt keinen Orientierungssinn braucht, weil man eh alle 100 Meter irgendetwas sieht, woran man sich orientieren kann. In fremden Städten muss man dann endweder sehr aufmerksam sein oder sich blind auf einen Ortskundigen verlassen. Ich wählte die zweite, komfortablere Methode.
Nicht unbedingt zu meinem Vorteil, wie sich später heraustellen sollte.

Am Raktencafé angekommen bemerkten wir, dass unsere Biere noch nicht ausgetrunken waren. Schnell also den kühlen Gerstensaft in die eh schon kalte Speiseröhre geschüttet. Irgendwie war mir nicht sehr wohl dabei. Ich hatte irgendwie meine Probleme damit, vor einer Lesung zu trinken. Also, Gewissensprobleme. Dabei hatte ich bisher vor all meinen Lesungen getrunken. Wie weit entfernt doch so oft Willen und Tun waren.
Angst und Schrecken.

Das Raketencafé, also. Es sah nicht so aus, wie ich es mir vorgestellt hatte. Ich bitte also den Hörer, der das Etablissement nicht schon mal betreten hat, seine momentane Vorstellung eines Cafés mit 50er Jahre-Einrichtung zu vergessen und es sich stattdessen einfach oranger vorzustellen. Das war die dominierende Farbe. Soweit ich mich erinnern kann, auf jeden Fall.

Das ganze war schon gut gefüllt, als wir ankammen und es wurden nicht weniger Menschen. Ich fragte mich, ob irgendwer wegen mir gekommen war. Vielleicht war mein gonzojournalistischer Ruf ja schon bis nach Münster vorgedrungen und jemand hatte sich beim Anblick des Flyers mit meinem Namen gedacht: „Wow, DER kommt nach Münster? Da muss ich hin!“.
Gut, selbst ich mit meinem gigantischen Ego halte das für unrealistisch. Aber man wird doch noch träumen dürfen, oder?

Meine Mitleser begrüßten mich herzlich und teilten mir mit, dass wir den ganzen Abend lang zierfrei waren. Freigetränke.
Frei..cocktails.

Normalerweise halte ich mich zurück, aber die Cocktails im Raketencafé waren jetzt schon sagenumwoben und so konnte ich nicht wirklich wiederstehen. Ich weiß nicht mehr ganz genau, welches mein erstes Getränk war. Vielleicht war es ein Long Island Iced Tea. Obwohl das eigentlich nicht sehr für mich sprechen würde, immerhin wollte ich vor dem Lesen ja „nichts trinken“ und hatte so eben schon schon einen halben Liter Bier getrunken.

Auf jeden Fall wurde es dann bald neun Uhr und die Lesung begann. Genauer gesagt: Ich begann mit Lesen.
Das ist ja auch immer so eine Sache. Das Intro wurde zwar von einem Kassettenrekorder abgespielt, aber trotzdem war es dann an mir, die Menschen auch menschlich zu begrüßen. Das muss man sich vorstellen. Ich rede jede Woche vor möglicherweise vielen tausend Menschen im Radio, poteniell über das Internet zu noch viel mehr – aber wenn ich dann vor 50 in einem Café hocke und „Hallo“ sagen soll, weiß ich nicht mehr, was ich sagen soll und zucke merkwürdig mit dem Kopf.
Nun gut, vielleicht zucke ich auch beim Radio merkwürdig mit dem Kopf, aber da sieht das ja niemand. Angst und Schrecken waren definitiv auch unter dem Publikum.

Die Lesung selbst verlief glänzend. Darüber kann ich wirklich nicht mehr sagen. Danach wurde dann von allen Seiten her gelobt. Ich in der doofen Situation, nicht wirklich zu wissen, was ich darauf antworten sollte. Ich betrachte mich selbst als einen Menschen, der zwar gerne Komplimente hört, aber dann nicht weiß, was er sagen soll. Weil ich den Leuten ja schlecht mit einem Kompliment antworten kann.
„Sie haben aber auch sehr gut zugehört, das muss man Ihnen schon lassen! Das war sicherlich nicht ihre erste Lesung, was?“

Ich halte mich ja normalerweise zurück, wenn es um Freigetränke geht und bestelle dann nur Bier oder Wein und höchstens einen Cocktail. Um nicht wie ein Schmarotzer zu wirken, der sich die Bahnfahrt durch gratis Alkoholkonsum wieder freisäuft. Aber meine werten Mitleser haben mich geradezu dazu angestiftet, zu profitieren und waren selbst auch gut darin, dem Barkeeper das letzte abzuverlangen. Vor allem stand der gemütliche Barbesitzer in seiner Lederjacke und Pornobrille neben dem Tresen und nickte immer nur freundlich, wenn ich ihn sah. Alle Welt schien zu wollen, dass meine Erinnerung an diese Nacht sehr schwammig wurde.

Angst und Schrecken blitzen für einen winzigen Moment auf.
Dann konnte ich mich wieder an einem Getränk festhalten und auf einen luxemburgischen Helden trinken, den hier niemand kannte.

Ab hier wird die Erinnerung schwammig. Es ist schwer, zu sagen, was in all den Stunden, die ich im Raketencafé verbracht habe, passiert ist. Ich war öfters auf dem merkwürdigen Klo, das voller Kritzeleien und Sticker war, die alle gegen oder für irgendetwas waren. Ich kann mich auch noch erinnern, mit einer Kunststudentin über meine Kunstprojekte geredet zu haben. Ich habe dabei wohl ziemlich gelallt, was die Gute aber nicht verschreckt hat. Vielleicht war ich auch nur taub für jedgliche körpersprachlichen Signale.
Angst und Schrecken regieren mich, wenn ich mich so zurück erinnere. Einfach, weil die Erinnerung schwammig ist.

Ich weiß noch, wie wir voller Panik nach Schlüssel suchten und ich vergliche versuchte, mit meinem Handy unter eine Sitzegelegenheit zu leuchten. Das ist überhaupt so eine Sache. Man sollte Handys serienmäßig mit starken Taschenlampen statt mit Kamera ausstatten. Das würde so oft so viel mehr Sinn ergeben als eine Kamera, die eh eine Schrottqualität hat.

Irgendwann bin ich fast auf einer Sitzgelegenheit eingeschlafen. Angst und Schrecken. Sowas ist mir noch nie passiert, weshalb ich tunlichst versuchte, meine Augen nicht mehr zu entspannen.
Sehr viel Zeit dazu hatte ich eh nicht mehr, weil wir uns jetzt aus dem Raketencafé begaben. Ich meinem Mitleser und Abholer hinterher. Zur Bushaltestelle. Wo er erst mal auf den Bus warten wollte. Ein kurzer Blick auf Uhr und Fahrplan veriet meinem vernebeltem Verstand, dass wir endweder sehr lange warten würden oder einen anderen Weg finden müssten. Angst und Schrecken wurden größer und größer in den kalten Straßen Münsters.

Zum Glück fand sich ein Ausweg. Eine Bekannte, die uns anbot, doch alle in ihrer WG zu schlafen. Ich nahm dankend an und so verhalf sie mir zur Flucht. Eine lange, verrückte Flucht vorbei an Döner- und Teppichläden, über den Bahnhof, über nasskalte Straßen und schlussendlich in eine WG, deren Türdekoration aus Zigarettenpäkchen bestand.

Und da waren sie wieder, meine beiden alten Bekannten. In Münster schien es kein Entrinnen zu geben …