Angscht a Schrecken und Kälte am Bodensee

Ich schlage meine Augen auf. An mir vorbei ziehen steile Berghänge. Leichte Klaustrophobie macht sich breit. Ich liege in einem Nachtzug, der durch die modelleisenbahnlandschaftähnlichen Gebirge Tirols fährt. Ich, der noch nie so hohe Berge von so nahem gesehen hat, erstarre vor Erfurcht vor diesen felsigen Riesen. Ich errinnere mich an eine Vorlesung, in der mir Menschen von den Bergen vorschwärmten. Mütterlich und behaglich sei die Alm. Bei mir wecken so hohe, bedrohliche felsige Monster nur meine zwei alten Bekannten Angst und Schrecken. In einem Tunnel gelang es mir, in einen von Alpträumen durchsetzten Dämmerschlaf zu fallen …


Ein Wortschwall weckte mich wieder. Die Frau, die neben mir lag, redete ohne Unterlass in ein Telefon. Mit dem Sendungsbewusstsein von 10 freien Radiomachenden, denn die Person auf der anderen Seite hatte wohl kaum eine Chance, ihr zu antworten. Am Abend war dies auch schon so gewesen. Ich vermute, dass sie wohl „Krieg und Frieden“ diktierte – anders konnte ich mir ihre epische Logorähe nicht erklären.

In Bregenz klebten wir unsere abgekauten Ohren wieder an und machten uns auf den Weg zu Fähre. In einem ultra-modernen Glasbau erklärte uns der Hafenmeister, dass die Kasse nebenan sei. Dort standen zwei Senioren, die ungeduldig auf die Öffnung der genannten Kasse warteten. Nachdem die Verspätung von unglaublichen 1 Minute 32 Sekunden protokolliert worden war, kauften die Beiden Tickets für die Fähre und diktierten der Person hinter der Kasse, wieviel Rabatt sie nun bekommen würden. Das hatten sie sich ganz schlau vorher ausgerechnet. Zur Blumeninsel Mainau wollten sie.

War das Wetter in Bregenz noch grau und trüb gewesen, so herschte in Konstanz strahlender Sonnenschein. Ein wunderbares, sommerlich warmes Radiocamp stand mir bevor. In Gedanken hüpfte ich bereits barfuß und in kurzen Hosen über das sonnige Campgelände. Ich wusste gar nicht, wie sehr ich mich gerirrt hatte.

Eine Nacht danach stand ich tatsächlich barfuß am Bodensee. Ich hatte meine Schuhe ausgezogen, damit sie nicht vollständig vernässten. Eine schlaue Sache, dachte ich.
Dann verließ ich mein Zelt.
Es hatte die ganze Nacht durchgeregnet. Ich wunderte mich, dass es noch Matsch gab, in den meine Füße einsinken konnten. Die gefühlte Kälte hätte eher vermuten gelassen, dass der Boden mindestens 10 cm tief gefrohren wäre.

Ich konnte auch ohne Probleme über Steine und Stöcke laufen, denn der Kälteschmerz überwiegte. Schade, dass unter den 5 Schichten niemand mein T-Shirt mit dem Aufdruck „I feel hardcore“ lesen konnte.

Der Bodensee ist in der Vergangenheit regelmäßig zugefrohren. Seegfröhre wird das genannt. Lange konnte es nicht mehr dauern, dass der Mai 2010 als so ein Moment in die Geschichte eingehen würde. Angst und Schrecken schleiften schon ihre Schlittschuhkurven. Anscheinend war dies das Werk der sogenannten „Eisheiligen“. Der katholische Glauben erschien mir noch einmal mysteriöser.

Nach einigen Tagen Kälte schienen die Nahrungsreserven in der Natur aufgebraucht zu sein. Am Morgen erzählten mehere Menschen von einer Maus, die ihr Zelt heimgesucht haben sollte. Laut den Beschreibungen war das Tier ungefähr 3 Meter lang, hatte eine Schulterhöhe von anderthalb Metern und ein braunes Fell. Alle Angst schien von ihr gefallen zu sein, denn sie liess sich auch durch Klopfen und Rütteln nicht von Rucksäcken vertreiben, so groß ihr Hunger nach Wasabinüssen. Angst und Schrecken erschienen in Form von gigantischen Nagetieren.
Neben den Workshops und dem Auffüllen von Wärmeflaschen war Essen eine der Hauptbeschäftigungen im Camp. Leider wurde dieses Vergnügen durch die merkwürdige Rationierung getrübt. An einem Tag gab es eine halbe Kinderportion Käsespätzle mit drei gebratenen Zwiebelstückchen, am nächsten baute sich auf meinem Teller vor mir ein Turm aus Spaghetti auf. Er hätte einen Schatten geworfen, hätte die Sonne geschienen. Das tat sie leider nicht. Mittlerweile hatte ich schon ein wenig Angst um meine Zehen.

Die Abendgestaltung war bei den sibirischen Temperaturen auch etwas anders als sonst. Niemand tanzte zu den Klängen des großen LSD-Symphonieorchesters, auch kein süßlicher Geruch war zu vernehmen. Die illegalste Droge, die zu finden war, war eine Wodka-Cola-Mischung, die unter der Hand verteilt wurde. Drei Menschen tanzten zu einem schlechten komerziellen Radiosender.

Angst und Schrecken hatten mich. Wieso war es MITTE MAI so unglaublich kalt? Hatte die braune Bodenseemaus Tollwut? Was hat die Frau im Zugabteil so wichtiges und vieles zu erzählen? Hatten die Senior_innen die Blumeninsel Mainau erreicht? Wieso wurden Menschen, die Kälte brachten, heilig erklärt? Gab es einen guten Grund für die merkwürdige Essensrationierung? Würden meine Füße die Eiseskälte noch länger aushalten? Wieso um alles in der Welt waren meine Schuhe eigentlich nass?

Das einzige, was jetzt noch helfen würde, war die Flucht. Über den zugefrohrenen Bodensee.